Der Horizont gab nichts mehr heraus. Das Gefühl des Fliegens war
vorhanden und erinnerte ihn an die eben noch erlebte Bewegungsfreiheit.
Er und seine Cousins und Cousinen schwebten eben noch über die
trockene Wüste und hinterließen eine lebendige Wand aus
hellbraunen Staub. Sein Vater und der Onkel saßen vorne,
während sie hinten im Freien mitfuhren. Die ziehende Luft und
das leuchtende Blau zogen in ihm zusammen und doch tauchte ihn die
schnelle und wendige Fahrt in offene Räume ein.
Als die Naturstraße abrupt aufhörte und in einen schnell
fließenden, braunen Fluss untertauchte, mussten sie aussteigen.
Viele Menschen stiegen hier aus und gingen teilweise in Gruppen zu
einem Boot, das über einen gespannten Seil navigiert wurde. So
verabschiedeten sich auch Sorab und sein Vater von den anderen und
machten sich mit einem Koffer und einer Tüte auf zum Boot. Papa
hatte die Frühlingsüberschwemmung angekündigt. Das
beschäftigte ihn die ganzen Tage, als er darauf wartete von der
Tante abgeholt zu werden. Oft stellte er sich vor, dass die Straßen
irgendwann in die Wolken aufsteigen müssten. Es gab so viele von
ihnen. Jedes Mal, wenn er dachte, dass das Ende der Straße, das
steil nach oben verlief, zu sehen wäre, wurde er enttäuscht.
Dieses Mal kam er auf die Idee, dass Sie womöglich von Flüssen
geschluckt würden. Dann müssten aber Flüsse in den Himmel
fließen. Das ergab keinen Sinn. Wann floss Wasser nach oben?
"Keine Chance". Straßen werde er einfach nicht verstehen.
Niemals. Dazu müsste er Papa sein. Er wusste alles. Er verriet
ihm nur selten, wie die Dinge liefen. Am Morgen noch hatte Sorab wissen
wollen, warum die Zahnräder an Fahrrädern vorne
größer waren als hinten. Daraufhin meinte Papa, dass er ihm
drei Tage gebe diese Frage selbst zu beantworten. Ganz schön fies.
Deshalb zögerte er, ihm eine neue Frage zu stellen. Woher kam die
Überschwemmung? Seltsam. In die Wüste gingen sie doch immer
mit ganz, ganz viel Wasser, weil es dort keines gab. Alles so heiß
und trocken. Irgendwo auf einer Seite waren die Wände aus
weißen und grauen Bergen zu sehen. Doch sonst gab es nur
die Weite, die in den Himmel verging. Einen Augenblicklang hatte er Fata
Morgana im Sinn. Das kannte er bereits und verwarf den Gedanken wieder.
Sie waren dran. Ein kleiner Jungen, kaum älter als Sorab, verkaufte
die Tickets für die Überfahrt. Ein älterer Herr und ein
junger Erwachsener, vielleicht 23 Jahre alt, zogen bereits das Boot auf
die andere Seite. An der Stelle, wo sie sich befanden, war es nicht
tief genug, sodass das Boot über den Boden gezwungen wurde. Sorab
sah den schnellen Fluss des lehmigen Wassers und spürte ihn bis
an die Hüften. Eine Fahrt für zwei Personen macht 370. Sein
Vater war fasziniert darüber, dass der kleine Kassierer so schnell
rechnen konnte, und fragte, ob er mit Sorab um die
Wetter rechnen wolle. Der Sieger erhalte eine seiner Melonen. 100-12?
Sorab überlegte noch als der Kassierer 88 sagte. Das fand sein
Vater so gut, dass er gleich zwei weitere Fragen stellte. 88-53? 35!
7,7-1,25? 6,45! "Keine Chance.", dachte Sorab. Das mache er ganz toll,
sagte sein Vater und gab ihm eine Melone.
Sie waren mit weiteren drei Personen an der Reihe. Das Boot wackelte
und spritzte. Alle hielten sich an einander fest und fielen auf einander.
Das Wasser wühlte sie zusammen und wieder auseinander. Papa schrie
und fragte den älteren Bootsmann, ob das eben sein Sohn gewesen
wäre. Er nickte. Die Überfahrt dauerte nicht lange.
Beim Aussteigen sprang Sorab ab und sah, dass hier ein junges Mädchen
für die Fahrt das Geld annahm. Papa fragte, ob er sie schön
fände. Sorab errötete. "Gegen sie möchte ich nicht
spielen." Papa sagte lächelnd: "Wir haben nur noch eine Melone."
Sorab rutschte aus und versank ins Wasser. Das eiskalte
Wasser weckte ihn auf, aber er hing bereits an der Hand seines Vaters,
als er hochsprang, um aus dem Wasser zu kommen. Alle schauten ihn
belustig an. Auch sie. Die von tiefem Schwarz umrandete
grünbraunen Augen der Kassiererin, brachten seinen Blick zum
flüchten. ...und so ging er flüchtig in der Leere von dem Spektakel weg.
Sorab und sein Vater setzten sich auf einen Hügel am Staßenrand.
An ihrer Seite floss das Wasser. Papa fragte, ob er Lust auf die Melone
habe. Ohne jedoch auf seine Antwort zu warten zuckte er ein Taschenmesser,
klappte es auf und schaute die Melone vertieft an. "Das Aufschneiden
der Melone ist eine große Kunst." Sorab hatte Durst, aber im
war sein Sprung noch peinlich. "Jede Melone ist anders. Du musst sie
dir erst anschauen, sonst reißt sie beim Schneiden." Sorab
erwiderte: "Reife Melonen knacken..."
"Genau und sie reißen leichter. Dein Messer muss scharf sein.
Dein Schnitt muss entschlossen und schnell sein."
"Deshalb schaust du sie an?"
"Genau. Es ist nicht nur der Riss, Kleiner. Was findet man in der
Wassermelone vor allem?"
"Den Saft."
"Und der ist sehr kostbar. Jeder Tropfen auf dem Boden ist eine Verlust.
Du musst sie so schneiden, dass die Kostbarkeit nicht den Boden berührt."
"...und du darfst Sie auch nicht auf die Hände bekommen."
"...genau. Das ist sonst eine klebrige Angelegenheit. Was kommt
nämlich danach?"
"Dreck von allem, was wir berühren."
"Sie soll nur gekostet werden." Er schaute tiefer und schnitt in einem
kreisenden Strich die Melone in zwei gleich große Teile. Kein
Tropfen. Ein Wink holte alle zu ihnen. Die kleine
Kassiererin kam auch. Sein Blick fiel wieder auf die Melone und er sprach mit
einer konzentrierten Stimme: "Das Schauen braucht Zeit. Also lass dir
dafür Zeit. Das Schneiden gibt eine Zeit vor. Also schaue genau
hin, um sie zu sehen." Alle schauten gebannt zu. Auch Sorab war hin und
her gerissen. Papa atmete ruhig und stetig: "Der kostbare Saft fließt
nach unten. Das rote Fleisch gibt ihm den Weg vor." Pause: "... Wer
hingeschaut hat, ist dankbar." Wieder ein Kreis. Dann ein Schnitt zum
Halbieren. Kein Tropfen. Er gab zwei Halbmonde an seine Gäste. Er
schaute wieder die Melone an. "Alles Kostbare findet sich hier."
Wiederholte Schnitte, bis alle ein Stück Melone genossen. Sorab
bemerkte wie ruhig es geworden war. Die Luft und das
Verspeisen der Melone war zu hören. Eine Kopfbewegung machte es ihm klar,
dass das nächste Stück für ihn bestimmt war.
Sorab schaute nachdenklich und flüsterte: "Vielleicht findest du
Mama auch in der Melone wieder, Papa." Kein Tropfen. Papa
überreichte ihm einen Halbmond. "Ich nicht mehr. Du aber eines
Tages."
arash, Juni 2015
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