Von Hell und Dunkel
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Was wäre, wenn Ihnen jemand den verrückten Vorschlag
machte, dass Sie nicht im Hellen, viel mehr im Dunkeln nach den
Dingen, nach denen Sie lange schon suchen, Ausschau halten sollten.
Was für Dinge wären das? Weshalb sollte man sie Dunkeln suchen?
Versuchen wir zunächst das Ding auszumachen. Warum sollten wir
einen Gegenstand, wie etwa ein Blatt Papier, Schlüssel, o. Ä., im
Dunkeln suchen? Wie soll die Suche in diesem Fall aussehen? Bleiben
wir in der Wohnung, um die Suche einzugrenzen, so könnten wir dunkle
Stellen aufsuchen oder die Wohnung zum Durchsuchen verdunkeln.
Der erste Fall in der Wohnung ist Ihnen vielleicht bekannt: Sie haben
etwas an einer bestimmten Stelle verwahrt, um es auf keinen Fall zu
verlieren; finden es aber nicht mehr, wenn Sie es brauchen.
Erstaunlich ist, dass der Gegenstand oft an ungewöhnlichen Orten,
die man am Anfang der Suche nicht im Sinn hatte, gefunden wird,
sodass man diesen Ort als eine Art Dunkel verstehen könnte. Da in
einzelnen Fällen durchaus die Möglichkeit bestünde, dass das
Gefundene beleuchtet ist, könnte man geneigt sein, das Dunkel als
Vergessen zu verstehen.
Im zweiten Fall der dunklen Wohnung bleibt es fragwürdig, ob die
Suche erfolgreich sein wird, wenn wir das Dunkel als das Fehlen
von Licht verstehen. Doch zunächst wäre es doch wahrscheinlicher
beim Abtasten in der lichtlosen Wohnung an Stellen, die man im
Hellen nicht beabsichtigte hatte, zu gelangen. Mit
Wahrscheinlichkeitsaussagen kommen wir in dieser Angelegenheit nur
nicht weiter, denn wie soll ein Blatt Papier von einem anderen
unterschieden werden? Zum Lesen von beispielsweise schwarzen
Buchstaben braucht man Licht, also Helligkeit. Einige Gegenstände
ließen sich doch so finden - könnte man einwenden, aber das erlaubt
uns trotzdem nicht die Aussage von Oben ohne zusätzliche Bedingungen
auszusprechen. Der Satz mit der Zusatzbedingung würde dann wie folgt
lauten: Suchen Sie Dinge, die Sie im Dunkeln von anderen Dingen
unterscheiden können, im Dunkeln. Also ist die Aufforderung im
Dunkeln zu suchen, während Dunkel als das Fehlen von Licht
verstanden wird, ein Irrsinn.
Wie kann man Dunkel noch verstehen? Da wir mit dem bisherigen
Verständnis nicht weit gekommen sind und nehmen wir an, dass Sie
ebenfalls, wie ich, durch den Satz von Hell und Dunkel gerade dazu
aufgefordert werden ihn zu deuten, müssen wir uns vielleicht selbst
krümmen.
Spannend wird es immer, wenn Worte ihr Beziehungsgeflecht und ihre
Bezüge erst finden müssen. Das passiert immer dort, wo Worte sich
verlieren oder wo sie erst erschaffen werden müssen, was mit der
Kreolisierung bei Glissant in Kultur und Identität verglichen werden
könnte. Was haben wir im Großen vor, damit wir bei dieser Haltlosigkeit
unser Gleichgewicht nicht verlieren? Wir bestimmen Fixpunkte, die
unberührt bleiben:
- Erster Fixpunkt: Der Satz von Hell und Dunkel ergibt Sinn, so wie er da steht und er lautet: Suche nicht im Hellen, viel mehr im Dunkeln, um zu finden.
- Zweiter Fixpunkt: Wir behalten unser Verständnis vom Alltag.
Wie können wir also Dunkel verstehen? Vergessenes, Verborgenes,
Unklares, Unbekanntes, Unfreundliches, Abgeneigtes, Böses, Schlechtes,
Nichts, Farbmischungen und vieles mehr. Was kann an diesen Worten
Einheitsstiftendes sein? Es kann uns etwas angehen, Dinge, die sich
in diesem befinden, zum Vorschein zu bringen, damit sie eben nicht
mehr "Dunkel" in dem jeweiligen Sinn der aufgezählten Wörter sind.
Etwa wird damit das Unfreundliche zu einer Form des Freundlichen
oder Nichts zu Etwas, Dunkelrot zu Hellrot, usw. Es klingt als
würde es hier um eine Negierung der Ausgangslage gehen, das heißt
nach der Negation kann alles Mögliche in dem Bereich des Wortsinns
zutreffen, nur nicht das Ursprünglichere.
Was bedeutet der Satz von Hell und Dunkel jetzt? Er sagt, dass wir
in dem Augenblick, in dem wir ins Dunkel, wie etwa ins
Unfreundliche, schauen, etwas anderes suchen.
Nehmen wir an, dass jemand zu uns unfreundlich geredet hat und wir
aus irgendeinem Grund pber das Gespräch nachdenken. Wir werden mit
Bestimmtheit auf unterschiedlichsten Ergebnissen kommen. Vielleicht
kommen wir zu dem Schluss, dass der Mann einfach unfreundlich ist,
dann sind wir aber in der Ausgangslage geblieben; Vielleicht
erfinden wir Voraussetzungen oder Begriffe, die auf kurzfristige
und langfristige Umstände des Mannes schließen lassen o.Ä., was so
viel heißt, dass wir in der Unfreundlichkeit etwas anderes gefunden
haben.
Eine weitere Möglichkeit im Dunkel zu suchen, ist der Ausdruck eines
Gefühls, wenn wir nicht wissen wie es sich darstellen soll. Wir suchen
Formen von Dichtungen, Tanzbewegungen, o.Ä., sodass das Gefühl so zum
Vorschein kommt, damit der Rezipient das ursächliche Gefühl in sich spürt.
In dem, was wir bis jetzt besprochen haben, ist es auffällig, dass
das Wort Suchen in seiner Bedeutung dem Alltag nah bleibt. Suchen
an sich ist unbestimmt und kann sich in vielen Ebenen von
Bedeutungen und Beziehungen manifestieren. In dem das Dunkel ins
Spiel kommt und zum Suchen eine Beziehung bildet, wird das Suchen
Eingeschränkt. Suchen im Dunkel ist zwar nicht eine bestimmte
spezielle Suche, da sie immer noch in unterschiedlichen Kontexten
gebraucht werden kann, doch es gibt Suchen, das einem Suchen im
Dunkel nicht entspricht.
Was heißt Hell? Wenn wir einerseits im Hellen nicht suchen können
und anderseits Hell und Dunkel eine ambivalente Beziehung
darstellt, dann muss das Dunkel ein Veränderbares sein, aus dem
man beim Suchen etwas heraus formen kann. Das Helle ist starr und
gibt keiner Veränderung oder Anpassung Freiraum. Versucht man doch
eine Änderung, dann verliert es sich im Dunkel. Suchen im Dunkel
heißt Formen aus Dunkel.
Im Hellen suchen hieße ins Dunkel negieren, was für uns nicht
vorteilhaft wäre. Nicht mit den vereinbarten Fixpunkten. Das ist
äußerst wichtig, denn hier wird klar, was alles nicht zur der Tätigkeit
des Suchens im Dunkel gehört. Ein einfaches Nacheinander-Reihen
bestimmter Tätigkeiten, die von vorne herein im Klaren sind, ist keine
Suche in unserem Sinne. Die Methode, die das zu Suchende ausgibt, ist
im Hellen und damit, wenn es ein Suchen sein soll und das Suchen ein
Negieren der Ausgangslage ist, das "Gefundene" im Dunkeln.
Ein Beispiel: Was ist 2+5? Wir übersetzen 2+5=(1+1)+(1+1+1+1+1)=7.
Die Methode des Rechnens sollte klar sein, doch wenn die Sieben gesucht
werden soll, stellt sich dann die Frage warum 7 im Dunkeln ist. Die
Anwort lautet, dass sie unermesslich viele Bedeutungen haben könnte,
etwa für sieben Zwerge, für einen Wert innerhalb einer mathematischen
Theorie über geometrische Objekte stehen, usw. Sie könnte auf alles
Mögliche zeigen. Rechnen ist damit keine Suche in unserem Sinne.
Was haben wir gefunden? Das Dunkel als das Schöpfungs-Gebende, als
das Formbare, als das Gestaltlose, als das Strukturferne usw.,
insofern ein Halten darin existiert. Wozu ins Dunkel und damit in
das Ungewisse zeigen? Weil wir suchen, um etwas ins Helle zu rücken.
Warum suchen wir? Weil es irgendeine Anweisung zu suchen - von uns
selbst oder anderen im weitesten Sinne, gibt. Gefundenes kann einer
Suche zeitlich nach kommen. Finden ist dann eine zweckgebundene
Zukunft. Zweckgebunden ist die Zukunft, wenn wir angewiesen wurden
zu Suchen.
Der Sog der Finsternis erschafft Zukunft, insofern wir ihn
mögen.
Wie hängt das Suchen im Dunkel mit unserem Alltag zusammen oder
viel mehr, ist die Suche im Dunkel nur etwas für Künstler,
Wissenschaftler, Philosophen usw.? Ich möchte Behaupten, dass es
dem nicht so ist, viel mehr können wir bei jeder Gelegenheit im
Dunkel suchen.
Etwa im Kontakt zu anderen Menschen kann das bewusste Suchen im Dunkel
ungemein fruchtbar sein, um eine oder mehrere Personen besser zu verstehen.
Oft können durch diese Haltung im Gespräch neue Nomen, Adjektive,
Verben, usw. als Insider oder Fachwörter entstehen, die das Gesagte
besser Beschreiben.
Ich will weiter gehen und behaupten, dass die Suche im Dunkel notwendig ist, um
uns gegenseitig zu verstehen, wenn wir die gewohnte Sprache dazu benutzen.
Sie zwingt uns in Ihre Art der Grammatik und der fremdartigen
Vokabular zu denken, sodass Verstehen des Anderen im Dunkel anfangen muss.
Zuhörer, wie Erzähler, bekommen die Möglichkeit den schablonen Charakter
der Sprace auf die Situation zurechtzuschneiden.
Wie die Grammatik sich dem Gespräch einer Gruppe anpassen soll, kann
ich nicht sagen, aber eine Anpassung des Vokabulars scheint mir einfach
und notwendig auszufallen, denn die Bedeutung unserer Sprache stellt sich
auf das ein, was wir oft benutzen. Es kann der Beruf sein, den wir 40
Stunden in der Woche ausüben, es kann die Schule sein, in die wir 30
Stunden in der Woche gehen o.Ä. Deshalb stellen sich aus ökonomischen
Gründen Voraussetzungen in den Alltagsbegriffen, die heute etwa fünf
Meter weiter nicht mehr gelten, weil dort die Arbeit eines anderen anfängt.
Im engsten Raum befinden sich heute die unterschdiellichsten Gedankenkomplexe mit ihre
ökonomie der Voraussetzungen. Wenn man nun bedenkt, dass jeder auf Ausgesprochene
Sätze die andeuernd geübte Denkstrukturen anwendet, kann man sich leicht
davon überzeugen lassen, wie schwer es in unserer Zeit ist sich zu Verständigen.
Das nenn ich das Problem der Spezialisierung.
Die Suche im Dunkel würde hier darin bestehen, dass man der
Spezialisierung entgegen arbeitet, indem man Aussagen Anderer so
allgemeint versteht wie möglich, um dann aber durch gezieltes
Fragen die Grenzen bestimmt, die der Sprecher Vorausgesetzt hatte.
Das Verständnisproblem ist zudem unter Kulturfremde Personen vielen plausibel, doch
es wird leicht übersehen, dass jeder auch abgesehen von seinem Beruf eine Insel
voller Bilder ist, die zu der gewohnten Sprache verschoben steht (besteht).
arash, Februar 2014
Literatur:
- Martin Heidegger, Vortrag im Bayerischen Rundfunk "Was heißt Denken?" aus dem Jahr 1952
- Michel Serres, "Erfindet euch neu!" aus dem Jahr 2013
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