Frage der Identit?t


Die Frage der Identität
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Eine Begriffsbestimmung in mehreren Aufsätzen


Feierlich eröffne ich mit diesem Zyklus über das Thema der Identität meine Zeit bei der Nachhut. Als erster Artikel dieser Art mutet diesem Aufsatz etwas Feierliches an und ich möchte kurz meine Agenda umreisen: Wir, die wenigen die die Nachhut bisher umfasst, versuchen uns f?r die Ver?nderungen der heutigen Zeit zu sensibilisieren. Diese Veränderungen können aber überhaupt erst begriffen werden, wenn man seine Zeit genaustens beobachtet. Dies führt uns aber gleich zu dem Dilemma, das eng verbunden ist mit dem Problem der personalen Identität: Das Unvermögen seiner eigenen Subjektivität zu entfliehen und die fehlende Distanz bei der Betrachtung der Gegenwart, macht es besonders schwer diese überhaupt umfassen zu k?nnen. Dennoch k?nnen wir auf massenmediale Produktionen und Analysen von User-Verhalten im Internet gewisse Schlüsse auf unsere globale Entwicklung ziehen.

Was macht nun unsere Zeit anders als die der Vorherigen?

Es liegt auf der Hand und erscheint wahrscheinlich vielen Lesern banal, dass hier nochmal die Bedeutung des multimedialen Informationszugangs und der damit verbundenen digitalen Revolution unterstrichen wird. Er hörte dies schon an dutzend Orten zuvor: In den Zeitungen, im Internet, im Alltag und in seiner Arbeit. Dennoch glaube ich, dass viel die Bedeutung nicht in ihr Gänze begreifen: Denken braucht Struktur. Ein System wie Sprache und im weiteren Schritt ein Medium damit die Kommunikation überhaupt möglich ist. Wenn sich eins dieser Systeme verändert, hat dies massive Folgen f?r die anderen Systeme und prägt sie ma?geblich. Wenn sich die biologische Grundlage des Gehirns schlagartig ändern w?rde, könnte dies fundamentale Veränderungen in unserer Sprache hervorrufen. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass das Internet-Medium unsere Art zu Denken massiv umstrukturieren kann, da es die Art und Weise wie wir unsere Welt wahrnehmen und verstehen prägt. Diese drastische Beeinflussung wird aber wenigen Nutzern klar, da sich auf ihre eine Weise narzisstisch hypnotisiert werden.

Marschall McLuhan prägte in den 60igern mit seinen ersten überlegungen die Idee, dass das Medium "the exentsion of men" sei, dass jedes alle Medien sei es das Telefon, das Licht, der Film und der Computer den Menschen in seinen Interaktionen und in seinem Kommunikationsradius erweitere und damit den Menschen ma?geblich präge. Die Argumentation kann also nichts Neues sein. In der Medienwissenschaft, diesen noch eher belächelten Zweig der Geisteswissenschaften, geht es gerade um diese Beziehungen. Doch auch sie greift nicht weit genug.

Wir Menschen adaptieren und imitieren unsere Umwelt, dies ist ein ganz natürlicher Prozess. In der Verhaltensbiologie ist die Imitation ein notwendiger Schritt der Entwicklung und auch das Verhalten, durch das wir uns als Neugeborene überhaupt in dieser Welt zurechtfinden. Jeder von uns kennt das Phänomen, wenn er pl?tzlich an sich selber beobachtet, wie er wie ein beliebter Filmheld beginnt zu reden oder wie er sich auf einmal Angewohnheiten eines Freundes unterbewusst selber angeeignet hat. Dies ist auch ein täglicher Prozess der Identitätsfindung unabh?ngig vom Alter der Person. Nicht durch genetische Dispositionen, sondern durch die Aneignung von Verhaltensmustern und Einstellungen wird unsere Identität gepr?gt. Wir imitieren jeden Tag und nicht nur im direkten Austausch mit Menschen, sondern auch über die Kanäle multimedialer Medien.

Ich glaube, dass wir dabei aber nicht nur die Inhalte der Medienkanäle adaptieren, sondern die Medien an sich. Ich glaube, dass dies auch eine Begründung f?r eine der vielen Entwicklungen der heutigen Zeit ist. Ein Beispiel: Früher gab es im Fernsehen den sogenannten "Sendeschluss". Damit wurde der Zeitpunkt bezeichnet, bei dem der jeweilige Sender sein Programm beendete und ?ber Nacht nur noch ein Testbild zeigte. Dadurch wurde auch ma?geblich der Lebensrhythmus der Menschen bestimmt und wieder gespiegelt. Ab 23 Uhr konnte kein Fernsehprogramm mehr empfangen werden und in den 60igern gab es sogar zur Mittagszeit kein Fernsehprogramm. Doch seit der generellen Abschaffung hin zum Vollprogramm, dass sich weitestgehend Ende der 80iger/Anfang der 90iger Jahre in Deutschland durchsetzte, änderte sich dies¹. Dies hatte fundamentale Folgen f?r den menschlichen Organismus. Ihm wurde eine ständige Aufnahmefähigkeit vorgelebt, ein st?ndiges "Auf Empfang sein". Nat?rlich gab es schon früher überforderungsanzeichen von Menschen, die mit den technischen Entwicklungen der Industrie und der fortschreitenden Spezialisierung der Wirtschaft nicht zurechtkamen. Dies war besonders in den 60iger Jahren in Amerika der Fall, als dort der Typus des "Self-Made Mans" seinen wirtschaftlichen Erfolg immer mehr als Isolation von der Gemeinschaft wahrnahm. Das "Burn-Out"-Syndrom tauchte in diesem Zusammenhang in Amerika auf und erhielt schon in den 70iger Jahren ein gro?es mediales Interesse. Zu einer massenhaften Adaption dieser Arbeitsbereitschaft kam es aber erst durch den Einfluss des Fernsehens. Dies könnte auch erklären, wieso es um 2000 zu einem massenmedial spübaren Erschöpfen kam, da die Menschen an den überforderungen der 90iger Jahren scheiterten. Mit dem Internet gibt es eine ähnliche ?berforderung f?r den Menschen: Sein Zugang zu Informationen in dieser Fülle hat direkte Auswirkungen. Einige Studien, die in dem Buch The Shallows: What the Internet is Doing to Our Brains von Nicholas Carr aufgeführt werden, belegen, dass sich unser Gedächtnis momentan massiv umstrukturiert. In welche Richtung ist noch ungewiss. Dies ist f?r uns deshalb von besonderem Interesse, da unsere Erinnerung die Grundlage unserer Identitätskonstruktion ist. Das Internet strukturiert also nicht nur unsere Art zu Denken neu, sondern auch die Art wie wir uns als Mensch überhaupt wahrnehmen. Dazu kommt, dass wir unterbewusst die vorgelebten Modelle des Internets adaptieren. Überreizung und Unsicherheit ist die Folge der schnellen Informationsflut. Da wir noch nicht wissen wie wir dieser Entwicklung standhalten können, verfallen wir in einen Zustand der Apathie. Diese Apathie ist überall spürbar: Wir sind in einem Schockzustand und aus diesem Schockzustand k?nnen wir uns nur befreien, wenn wir wissen weshalb wir schockiert sind. Die Nachhut - wir alle gemeinsam - wollen uns daraus befreien! Wir wollen wieder sensibel sein. Wir wollen wieder leben. Denn das Leben im Schockzustand ist nie lebenswert gewesen.

Diese These soll nicht dazu aufrufen sich von den Technologien abzuwenden, sondern vielmehr auf die nicht mehr r?ckgängigen Folgen der technischen Entwicklung in einer aufgeklärten Weise neustrukturiert zu reagieren.

Das Internet ist eine ähnlich einschneidende Erfindung f?r die Menschheit wie das Feuer oder die Erfindung des Rads. Ich nehme sogar an, dass wenn man die Länder betrachtet, in denen in der jüngsten Zeit politische Neustrukturierungen stattfinden, und dort die Zeitpunkte der Einführung einer gewissen Internetbrandbreite mit den tatsächlichen Zeitpunkt der ersten revolutionären Unruhen betrachtet, wird man in fast allen Ländern auf einen ähnlichen Zeitabstand sto?en.

Wir sind mitten in diesen Neustrukturierungen, deren Entwicklungen ungewiss sind. Was f?r Folgen dies f?r unsere Identitätskonzeption hat, wird das Thema meines zweiten Essays sein.

Tim Ellrich, 3. März 2014

Fußnote
    1. Die Entscheidung zum Vollprogramm war wiederum eine direkte Folge der Entwicklungen der globalisierten Wirtschaftssituation, die immer ?fter dazu f?hrte das Menschen zu ungew?hnlichen Arbeitszeiten arbeiteten und neue Lebensrhythmen entwickelten.


















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